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Visualisierung der Fraktionsdisziplin bei Bundestagsabstimmungen

von Gregor Aisch. Lesezeit: etwa 5 Minuten.

Seit die Grünen in NRW vor etwa einem Jahr via Twitter bekannt gaben, dass sie zwar weiterhin gegen den JMStV seien, die Fraktion sich aber aufgrund parlamentarischer Zwänge anders entschlossen habe, war das Thema Fraktionszwang auf meiner Tagesordnung gelandet. Obwohl der erste Prototyp der Visualisierung schon im Januar fertig war, bin ich erst vor kurzem dazu gekommen das Projekt abzuschließen und auszuwerten. Mit diesem Artikel möchte ich etwas den Designprozess verdeutlichen, der hinter der Grafik steht.

Es beginnt mit der Datensuche

Die Rohdaten zu den namentlichen Abstimmungen gibt es auf der Webseite des Bundestags. Für jede Abstimmung findet man ein PDF-Dokument mit der Liste aller Abgeordneten und ihrem Votum. Glücklicherweise hat sich das Team von Abgeordnetenwatch den Daten bereits angenommen und diese in einer strukturierten Datenbank aufbereitet. Auf freundliche Nachfrage bekommt man eine CSV-Datei, andernfalls lassen sich die Daten aber auch gut scrapen. Für meine Zwecke brauchte ich nicht mal die Abstimmungen jedes einzelnen Abgeordneten sondern nur die Gesamtzahl der Ja- und Neinstimmen sowie Enthaltungen.

Transformation der Daten

Der nächste Schritt besteht darin, die den Rohdaten in geeigneter Weise zu transformieren. Da mich interessiert hat, wie geschlossen die Fraktionen abstimmen, habe ich aus den Stimmenverteilungen ein Maß für die Geschlossenheit der Fraktionen berechnet. Es berechnet sich für jede Partei und jede Abstimmung aus der Anzahl der Votierungen der jeweiligen Fraktionsmehrheit geteilt durch die Gesamtzahl der Stimmen der Fraktion. Angenommen in einer Abstimmung haben 100 Fraktionsmitglieder für Ja gestimmt (=Fraktionsmehrheit), 50 für Nein und 30 Abgeordnete haben sich enthalten, dann ergibt sich eine Geschlossenheit von 100 / (100 + 50 + 30) = 100 / 180 = 55%. Die maximal erreichbare Geschlossenheit ist 100%, im Falle einer einstimmigen Abstimmung. Die untere Grenzwert liegt bei 33%, in diesem Fall spaltet sich eine Fraktion in drei gleich große Lager für Dafür, Dagegen und Enthalten. Abwesende Abgeordnete werden in meiner Berechnung wie Stimmenthaltungen gewertet.

Was mir bei der Transformation der Daten wichtig erscheint ist die “Lesbarkeit” der resultierenden Werte. Ein Wert von 70% lässt sich zum Beispiel wie folgt lesen: 70% der Abgeordneten einer Fraktion haben gleich abgestimmt. Anstatt meiner eigenen Berechnung hätte ich zum Beispiel auch den Rice-Index benutzen können. Da dieser aber die Übereinstimmung zwischen 0% und 100% normiert, wäre die Lesbarkeit verloren gegangen.

Visualisierung

Nachdem die Daten transformiert sind, stellt sich die Frage, wie sich die Daten am besten visualisieren lassen. Da die Visualisierung sich an eine breite Zielgruppe richtet, macht es Sinn, sich dabei an aus dem Alltag bekannten Konzepten zu orientieren. Nach einer Weile kam mir die Idee, die Abstimmungen in einem radialen Scatterplot darzustellen, wobei die maximale Geschlossenheit im Zentrum steht. Eine Übereinstimmung von 100% ist somit das Bulls-Eye einer Dartscheibe. Die Idee lässt sich ohne großen Aufwand mit Programmen wie Excel oder OpenOffice ausprobieren, wie im folgenden Beispiel der SPD-Abstimmungen in der 17. Wahlperiode:

Mir gefiel die Idee, also weiter mit der Verfeinerung der Darstellung. Die Gitter aus Hilfslinien erschienen mir als etwas zu störend, weshalb ich zunächst die radialen Linien weggelassen habe. Jetzt wurde der Zielscheiben-Charakter noch deutlicher.

So richtig zufrieden war ich aber noch nicht. Der Hintergrund wirkte immer noch etwas unruhig, was daran zu liegen scheint, dass unser Auge die Hilfskreise nicht besonders gut wahrnehmen kann – vor allem wenn der Fokus auf die Abstimmungssymbole fällt. Nach der Lektüre in David McCandless großartigem Buch ist mir dann ein guter Trick aufgefallen. Anstatt den Hintergrund mit den Hilfskreisen zu “zerschneiden”, kann man ihn auch einfach in abwechselnd eingefärbte Zonen einteilen, etwa so wie man es bei langen Tabellen auch macht. Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Grafik dadurch entspannt.

Beim Betrachten der verschiedenen Fraktionen ist mir schließlich aufgefallen, dass sich sehr viele Abstimmungen innerhalb der 80% Zone befinden. Dasselbe Bild hat sich auch für die anderen Fraktionen gezeigt. Um den Platz besser auszunutzen und die Überscheidungen von Symbolen zu reduzieren, habe ich mich entschlossen statt der linearen Skala eine Wurzelskala zu verwenden.

Die aus der Wurzelskala resultierende ungleiche Verteilung der Hintergrundzonen habe ich durch die Wahl anderer Zonengrenzen korrigiert. Darüber hinaus hatte ich noch ein kleines Problem mit der Wahl des radialen Scatterplots zur Darstellung nicht-periodischer Daten. Zwar stellt die Grafik jeweils den Zeitraum einer Wahlperiode dar. Allerdings können Wahlperioden erstens unterschiedlich lang sein (z.B. bei vorgezogenen Neuwahlen) und zweitens ändert sich die Anzahl und Verteilung der Abstimmungen von Periode zu Periode – anders als etwa bei Monaten innerhalb eines Jahres. Deshalb fand ich es angebracht, den Kreis “aufzubrechen” und so den Anfang und das Ende der Wahlperiode kenntlich zu machen– ein Trick, den ich mir übrigens von Cinemetrics abgeguckt habe.

Verfeinerung und Interaktivität

Der letzte Teil der Arbeit lag in der Verfeinerung der Visualisierung und der Erweiterung um interaktive Features. Das Abstimmungssymbol hat ein Label bekommen, so dass man auf einen Blick sehen kann, wie sich die Fraktionsmehrheit entschieden hat. Besonders wichtig sind die Tooltips, die den Titel und das genaue Ergebnis der Abstimmungen anzeigen. Über ein Menü können Fraktion und Wahlperiode ausgewählt werden. Mit RaphaelJS war es relativ einfach, den Wechsel zwischen Fraktionen zu animieren, was allerdings nur im Chrome-Browser wirklich flüssig läuft. Während der Umsetzung kam mir zudem die Idee, die Selektion von mehreren Fraktionen im selben Diagramm zu erlauben, wodurch Gegenüberstellungen wie die folgende möglich werden:

Auswertung und Fazit

Besonders interessant finde ich den Vergleich der Fraktionsdisziplinen der Regierungskoalitionen der letzten beiden Legislaturperioden. Während die große Koalition noch vergleichsweise uneins war, erreicht die schwarz-gelbe Koalition fast durchgehend Geschlossenheiten von über 90%. Der Grund dürfte vermutlich an den deutlich knapperen Mehrheiten liegen. Interessant ist ebenfalls der Bezug zu den Themen der Abstimmungen. Die hohe Fraktionsdisziplin der CDU/CSU-Fraktion scheint nur bei Fragen der Gentechnik und Stammzellenforschung aufgelöst zu werden. Bei den Grünen sind hingegen die Auslandseinsätze der Bundeswehr die Abstimmungen, bei denen am wenigsten geschlossen abgestimmt wird. Die naheliegende Vermutung, dass Regierungsfraktionen geschlossener votieren als Fraktionen in der Opposition zeigt sich am Vergleich der FDP in der 16. und 17. Wahlperiode besonders gut.

Bei den Linken ist mir die Abstimmung zum Anbauverbot von Genmais aufgefallen, bei der sich die Uneinigkeit der Partei allein durch die Abwesenheitsquote von 43% errechnet hat. Es stellt sich die Frage, ob Enthaltungen und Abwesenheit nicht vielleicht weniger stark gewichtet werden sollten, als klare Ja- und Nein-Stimmen. Die interaktive Version gibt es übrigens hier.

  • http://www.sendung.de/ Marian Steinbach

    Gregor, vielen Dank für die spannenden und lehrreichen Einblicke! Das Ergebnis kann sich sehen lassen! Besonders zur Gegenüberstellung funktioniert die Darstellung meines Erachtens hervorragend! Nur den Titel “Fraktion vs. Gewissen” finde ich fragwürdig. Er legt nahe, dass ein Abgeordneter stets vor der Wahl steht, sich entweder dem Gebot der Fraktion oder seinem Gewissen zu unterwerfen. Es soll auch schon Fälle gegeben haben, wo beides zum selben Ergebnis geführt hat. ;-)

  • http://driven-by-data.net Gregor Aisch

    Ja, über den provokativen Titel kann man sich sicherlich streiten. Man könnte entgegnen, dass ein Abgeordneter, der die Meinung der Fraktionsmehrheit gewissenhaft vertritt, sich dem Fraktionszwang nicht unterwerfen muss. Der Konflikt Fraktion vs. Gewissen betrifft also nur einen Teil der Abgeordneten und auch nur einen Teil der Abstimmungen.

    Im Kern ging es mir bei der Visualisierung aber um genau diese Fälle. Leider bräuchte man mindestens noch die Ergebnisse der fraktionsinternen Vorabstimmungen, um nachvollziehen zu können, wie viele Abgeordnete sich tatsächlich der Fraktionsdisziplin unterwerfen mussten. Das diese Vorabstimmungen nicht dokumentiert werden – offiziell gibt es so etwas wie Fraktionsdisziplin nach deutschem Recht gar nicht – hebelt ein bisschen den eigentlichen Sinn der namentlichen Abstimmungen auf, nämlich mehr Transparenz bei parlamentarischen Entscheidungen.

  • http://www.colorful-data.net Paul

    Vorbildlich ausführlich, wie du jeden Schritt erklärst. Auch schön, dass du dabei auch noch darauf eingehst, warum du dich für welchen visuellen “Tweak” entschieden hast und woher die Inspiration kam. Frage: Hast du erst Skizzen auf Papier gemacht oder einfach drauf los programmiert?

  • http://driven-by-data.net Gregor Aisch

    In der Regel gibt es zu allen Visualisierungen von mir irgendwelche Papierskizzen, so auch zu dieser hier.